Schau mich an – Gesicht einer Flucht
„Manchmal gehe ich durch die Stadt und einige Leute betrachten mich mit Hass in den Augen. Deshalb sehe ich nicht in die Gesichter der Menschen. (…) Ich möchte den Menschen in Haltern sagen, dass nicht jeder schlecht ist. Es gibt nicht immer einen Grund für Hass. Jede Person hat eine Geschichte“, dies schrieb der 21jährige Suleiman aus dem Irak, als ich ihn bat, seine Fluchtgeschichte aufzuschreiben.
Viele Menschen kennen Geflüchtete nur als „die Flüchtlinge“, pauschalisierend, anonym – und meistens klingt es negativ. Dieser Eindruck verstärkte sich nach den Ereignissen in der Silvesternacht 2015 in Köln. Damals engagierte ich mich bereits seit einigen Monaten ehrenamtlich im Asylkreis Haltern am See für Geflüchtete, gab Kindern Deutschunterricht, suchte Kontakt in den Willkommenscafés.
Für uns im Asylkreis in Haltern am See hatte die Flucht inzwischen sehr viele unterschiedliche Gesichter bekommen. Das wollte ich der Bevölkerung in einer Zeitungsserie und auf Facebook mit dem auffordernden Titel „Schau mich an – Gesicht einer Flucht“ vermitteln. Die Entwicklung des facettenreichen Projekts zu einer beeindruckenden Wanderausstellung war damals überhaupt nicht abzusehen.
Asylsuchende und Deutsche erzählen ihre Geschichten
Mutig und offen schildern die Teilnehmer*innen wer sie sind, warum sie fliehen mussten und wie es ihnen in Haltern geht. Sie schreiben es selbst auf, mit Hilfe von Übersetzern oder ich protokolliere, was sie berichten. Dazu zeigen sie auch ihre Gesichter – Jennifer Grube und ihr Team vom Fotostudio Augenblick fertigen kostenlos berührende Portraits an. In lockerer Reihenfolge sind seit März 2016 43 Artikel in der Halterner Zeitung erschienen.
Die Aufmerksamkeit für die Serie nahm zu, als im Sommer auch deutsche Flüchtlinge und Vertriebene seit dem Zweiten Weltkrieg ihren Platz in der Reihe fanden. Dies geschah einerseits aus der Frage heraus, wie Asylsuchende es aushalten, in einem fremden Land zu sein, häufig getrennt von ihren Familien und mit furchtbaren Erlebnissen im Kopf. Wie haben das Deutsche geschafft, die den Zweiten Weltkrieg, Flucht und Vertreibung überlebt haben? Sie berichten, wie Flucht und Vertreibung ihr Leben beeinflussten.
Andererseits spielt der Aspekt, dass vor erst 70 Jahren 14 Millionen Deutsche heimatlos durch unser zerstörtes Land irrten, in der heutigen Diskussion um Geflüchtete kaum eine Rolle. In den meisten deutschen Familien wird es Vorfahren geben, die Flucht und Vertreibung, nicht nur während des letzten Krieges, sondern auch in den Jahrhunderten davor erlebt haben. So gewinnt das Thema Flucht eine neue persönliche Dimension, und mit der fast zwangsläufig entstehenden Nähe taucht die Frage auf: Wohin würde ich gehen, wenn meine Heimat nicht mehr meine Heimat sein kann?
Ein Projekt mit vielen Facetten (Dokumentation)
Erst mit der Zeit wurde deutlich, dass das „Schau mich an – Projekt“ wesentlich mehr Facetten hat, als das anfangs anvisierte Ziel, Verständnis für geflüchtete Menschen zu wecken und Ängste der Halterner Bevölkerung abzubauen:
– Geflüchtete teilen ihre Portraits auf Facebook und erhalten von ihren Landsleuten großen Zuspruch. Ein Jeside schrieb: „Endlich spricht jemand über unsere Misere.“
– Einige der älteren deutschen Teilnehmer*innen haben noch nie (oder so ausführlich) über ihre Erlebnisse gesprochen. Manche kostet es große Überwindung. Eine Teilnehmerin meldete überrascht zurück: „Ich fühle mich erleichtert. Ich habe gar nicht gewusst, dass mich das alles so belastet. Seitdem ich Ihnen davon erzählt habe, kann ich darüber reden.“
– Projektteilnehmer*innen wachsen über sich hinaus, wenn sie während der Ausstellungseröffnungen vor Publikum von sich und ihren Fluchterfahrungen erzählen.
– Ein Arbeitgeber wurde durch das Portrait in der Zeitung auf einen jungen Mann aufmerksam und bot ihm ein Praktikum an – mittlerweile ist ein Ausbildungsvertrag unterschrieben.
– Das Team der Theaterpädagogischen Werkstatt Osnabrück hat sich die Ausstellung angesehen und Details aus den Lebensgeschichten in ihr Theaterstück „fremdsein. ein dialog.“ eingebunden. Zielgruppe sind Schulkinder ab der 7. Klasse. Es wurde an 30 Schulen im Landreis Osnabrück und während eines Gastspiels in Haltern am See aufgeführt.
– Es entstand ein Projekt zur Firmvorbereitung „Last Exit: Flucht“, in dem deutsche und geflüchtete Jugendliche sich kennenlernten und als gemeinsames Projekt ein Internationales Bufett erstellten. Für uns war es ein Experiment – und es hat alle Erwartungen übertroffen. Die Jugendlichen schließen Freundschaft und planen weitere Unternehmungen.
– Erste Nachahmer erstellen eine eigene Zeitungsserie oder Ausstellung, beispielsweise die Seelsorge im Jugendvollzug der JVA Herford.
– Zwischen einigen der Geflüchteten und mir hat sich eine besondere Beziehung entwickelt. In der Regel werden sie von Deutschen nicht nach ihrer Geschichte gefragt. Man möchte ihnen nicht zu nahe treten und möglicherweise Erinnerungen an schreckliche Dinge wecken. Doch vom eigenen Leben erzählen zu dürfen und gehört zu werden, ist eine besondere Wertschätzung, die jedem Menschen gut tut.
Ausstellung und Update
Glücklichen Zufällen und der Begeisterung vieler für das „Schau mich an“-Projekt ist die Entstehung der berührenden Ausstellung zu verdanken. So spendierte die Agentur „Gute Botschafter“ aus Haltern die Gestaltung der Roll-Ups, die deren Mitarbeiterin Michaela Kruse-Harbott wunderbar kreierte. Das Land NRW mit dem Projekt „Komm-An-NRW“ und der Caritasverband für die Diözese Münster e.V. teilten sich die Druckkosten. Wir freuen uns über die zweite Auflage der Ausstellung, die wir seit Mai 2017 verleihen, um der großen Nachfrage gerecht zu werden. Die Spedition delog-Huettemann transportiert die Banner zum Selbstkostenpreis über weite Entfernungen in andere Bundesländer.
Anfang 2020 entstand ein Update mit vier Personen aus der Ausstellung. Sie berichten nach vier Jahren in Deutschland über ihre Eindrücke, Erfahrungen und Wünsche für die Zukunft.
Die Gesichter einer Flucht wurden bis zum Frühjahr 2022 bundesweit bereits rund 130 Mal ausgestellt.
Auszeichungen
2017 wurde das Projekt mit dem Ehrenamtspreis des Bistums Münster und im Wettbewerb „Aktiv für Demokratie und Toleranz“ des Bündnisses Aktiv für Demokratie und Toleranz des Bundesministeriums des Innern ausgezeichnet. Ebenfalls 2017 wählte die verlieh die Jury den Sonderpreis des Multikultipreises des Multikulturellen Forums in Hamm ans Projekt.
Folgeprojekt mit Video-Interviews
Inspiriert durch „Schau mich an – Gesicht einer Flucht“ entstand 2019 das Projekt „Angekommen in Recklinghausen/Gelsenkirchen/Bottrop – Migrationsgeschichten aus vier Generationen“. Es wird gefördert durch das Bundeministerium des Innern und für Heimat und durchgeführt von mir beim Bildungsträger RE/init e.V. Aus der Projektbeschreibung: „Wir heben einen kostbaren Schatz an Erfahrungen: 60 Menschen aus verschiedenen Ländern berichten von ihren Erlebnissen des Ankommens in Recklinghausen, Gelsenkirchen oder Bottrop. Sie sind im Laufe der vergangenen 75 Jahre aus ganz unterschiedlichen Gründen in eine häufig ungewisse Zukunft aufgebrochen. Nach einer Flucht vor Krieg und Gewalt, auf der Suche nach Arbeit, aus Abenteuerlust gekommen oder der Liebe wegen geblieben, haben sie im Ruhrgebiet einen Neuanfang gewagt. Wir möchten herausfinden, wie sie sich hier eingelebt haben und fragen nach ihren Visionen für ein Miteinander verschiedener Kulturen.“ Die Interviewpartner*innen sind im Alter zwischen 11 und 90 Jahren und stammen aus 45 Ländern. Die Interviews sind online zu sehen auf: www.angekommen-in-re.de. Das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wird die Interviews nicht nur archivieren, sondern bis Jahresende 2022 auch im Zeitzeugenportal präsentieren.
Wir geben die Idee weiter
Wenn Sie auch gerne in Ihrem Ort eine Zeitungsserie mit Portraits von geflüchteten Menschen starten möchten, geben wir unsere Erfahrungen gerne weiter. Sprechen Sie uns an!
Ganz herzlichen Dank allen Teilnehmenden für ihren Mut und ihre Offenheit, persönlichste Erlebnisse zu teilen. Uns alle eint der große Wunsch, mit unseren Familien in einer friedlichen Welt zu leben.
Gerburgis Sommer